Behavioral Design, das wirkt: Es braucht mehr Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Praxis

Bei der zweiten Digital Academy of Behavioral Economics der FehrAdvice & Partners AG in diesem Jahr war es uns eine Ehre, diese mit Nina Mažar, Professorin an der Questrom School of Business der Boston University, bestreiten zu dürfen. Die Verhaltensökonomin und Autorin stellte ihr neues Buch “Behavioral Science in the Wild” vor und gab einen Einblick darüber, welche Chancen die Verhaltensökonomie bietet.

In der Osterwoche folgten rund 100 Gäste dem Vortrag und der anschließenden Diskussion mit Nina. Der wissenschaftlich geprägte Diskurs der herausragenden Ökonomin war auch ein echtes Highlight für viele Experten aus der Fachwelt. Wir freuten uns besonders darüber, dass Professorin Lucia A. Reisch, Leiterin des El-Erian Institute of Behavioural Economics and Policy sowie Inhaberin des El-Erian Lehrstuhls für Behavioural Economics and Policy an der Universität Cambridge, und Ernst Fehr, Professor für Mikroökonomik und Experimentelle Wirtschaftsforschung am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich, der Diskussion beiwohnten. Hier sind die wichtigsten Punkte, die Nina gemeinsam mit unseren Gästen und mir im Rahmen der Digital Academy diskutierte:

Der Motor der Wissenschaft ist ein anderer als jener der Praxis

In den letzten 20 Jahren wurden sehr viele Bücher über die Möglichkeiten der Verhaltensökonomie geschrieben, darunter viele Besteller. Obwohl sich viele dieser Publikationen auf die besten wissenschaftlichen Arbeiten stützen, die die akademische Welt zu diesem Thema zu bieten hat, funktionieren in der Praxis nicht alle Interventionen so erfolgreich wie bei den wissenschaftlichen Experimenten. Grund: Der Kontext ist oft viel anders als im wissenschaftlichen Labor und den Feldexperimenten der Wissenschafter. Hinzu kommt auch ein Wissenschafts-Bias. Dieser resultiert nicht zuletzt daraus, dass in der akademischen Welt die Zielsetzunge für jeden Wissenschafter darin besteht, durch zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften seinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinne in den Mittelpunkt zu stellen: Die Zitationen dieser Arbeiten sind ein zentraler Anreiz im Wissenschaftsbetrieb. Publikationsfähig sind dann oft nur wissenschaftliche Arbeiten, wenn die Experimente eine signifikate Wirkung haben oder damit ein wissenschaftlich wichtiges Konzept bestätigt oder widerlegt wird.

Das Ergebnis: Ein möglicherweise verzerrtes Bild, wie belastbar die Erkenntnisse über den Erfolg bestimmter verhaltenswissenschaftlicher Interventionen sind. Darüber hinaus sollte man bei der Übersetzung von Forschungsergebnissen aus der Theorie in die Praxis bedenken, dass viele der Experimente in der westlichen Welt gemacht wurden und diese damit nicht eins-zu-eins auf andere Kulturen angewendet werden können. Hinzu kommt, dass Wissenschafter beim Verfassen akademischer Abhandlungen nicht die Praxis im Blick haben. So fehlen oft wichtige Details der Umsetzung. Aber auch wichtige Studiendesigns sind meist nicht ohne weiteres zugänglich, was bei der Anwendung in der Praxis Lücken hinterlässt.

Unterschätzt wird oft auch der Kontext, in dem die Studien durchgeführt wurden. Hier können die Uhrzeit, die Jahreszeit und die Auswahl der Studienteilnehmer sowie der Kontrollgruppe eine zentrale Rolle spielen. Das alles sind wichtige Faktoren, um ein vollständiges Bild davon zu bekommen, wie robust und verallgemeinerbar bestimmte Interventionen in der Verhaltensökonomie sind und was wir in Bezug auf die Effektstärke erwarten können.

Nudges beziehungsweise Anstubser müssen maßgeschneidert werden

Es ist somit nicht trivial, wissenschaftliche Erkenntnisse der Verhaltensökonomie aus der Theorie in die Praxis zu übernehmen. Man kann nicht einfach in einen Nudge-Laden der Wissenschaft gehen, Erkenntnisse und Maßnahmen aus den Regalen entnehmen und diese eins-zu-eins in die Praxis transferieren. Wird Verhaltensökonomie so angewendet, werden die Erwartungen mit Sicherheit enttäuscht. Nudges müssen in einem strukturierten Prozess entwickelt und für die jeweiligen Bedürfnisse maßgeschneidert werden. Um brauchbare Ergebnisse zu erhalten, macht eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Praktikern Sinn. Grund: Konzentrieren sich die Wissenschafter in erster Linie darauf, wie und warum etwas funktioniert, so haben die Praktiker mit viel Erfahrung ein besseres Gespür dafür, was die notwendigen Voraussetzungen dafür sind, dass eine Sache funktioniert. 

Verhaltensökonomische Maßnahmen brauchen Insider

Jede Verhaltensänderungen, die in einem Unternehmen angestrebt wird, bedarf zweier komplementärer Faktoren. Einerseits muss die Verhaltensänderung für alle involvierten Stakeholder einen großen Schmerz im Unternehmen lösen. Andererseits benötigt diese Verhaltensänderungs-Initiative immer einen Insider, der als Mentor für die Erreichung der Ziele steht. Nur dann ergibt es Sinn, auf Basis von verhaltensökonomischen Erkenntnissen neue Maßnahmen in der Führungsebene von Unternehmen und Organisationen zu designen, zu testen und die besten Maßnahmen zu implementieren.

Diese Insider haben ein gutes Verständnis für die Kultur des Unternehmens, kennen die informellen Strukturen und haben eine Sichtweise, was schon alles probiert wurde, was nicht funktioniert hat und welche Massnahmen aus heutiger Sicht „no-gos“ sind. Nur in Kooperation mit diesen Insidern und anderen Beteiligten, die hohe Kontextkompetenz haben, werden sich gemeinsam mit den Behavioral Designern erfolgreich Verhaltensänderungen erzielen lassen.

Standardeinstellungen können auch nach hinten losgehen

Verhaltensökonomische Forschungen zeigen, dass wir Menschen träge sind, gerne am Status-Quo festhalten und jene Optionen bevorzugen, die am wenigsten Aufwand benötigen. Diese kognitiven Verzerrungen, auch Biases genannt, macht sich eine der wichtigsten Nudging-Techniken, der „Default“ oder die Standardeinstellung zunutze, um das Verhalten von Menschen zu verändern. Beispiele dafür können etwa eine gesunde Ernährung, eine privaten Pensionsvorsorge oder mehr Gerechtigkeit sein.

Dafür wird das gewünschte positive Verhalten mittels Standardvorgabe automatisch vorausgewählt, es sei denn, jemand entscheidet sich explizit dagegen (opt-out). Doch diese Technik kann nach hinten losgehen. Aus vielen Experimenten wissen wir, dass Default-Änderungen nur funktionieren, wenn die Menschen auch eine positive Bereitschaft haben, ihr Verhalten zu ändern. Besteht diese nicht, erreicht man in der Regel das Gegenteil, sprich Reaktanz und als Ergebnis negative Reziprozität.

Das ist der Supergau jeder Verhaltensänderung. Ein schönes Beispiel dafür lieferte ein Event einer Umweltorganisation zur Klimakrise mit mehreren hundert Teilnehmern. Im Vorfeld der Konferenz wurde abgefragt, welches Mittagessen serviert werden sollte und als Default wurde ein klimaschützendes vegetarisches Menü angeboten. Nur wer sich explizit für ein Menü mit Fleisch entschied, bekam das auch serviert. Die Folge war: 70 Prozent der vegetarischen Menüs gingen zurück, in der Küche brach das Chaos aus und die Konferenz startete am Nachmittag verspätetet. Ein klassischer Fall einer missglückten Standardeinstellung. Eine der wichtigsten Regeln wurden damit vernachlässigt: Niemand lässt sich in eine Richtung nudgen, in die er nicht genudged werden will.

Mein Fazit aus der Diskussion mit Nina Mažar

Nina hat uns die Potenziale, aber auch die Risiken einer Verhaltensökonomie von der Stange aufgezeigt und es war spannend, mit ihr auf einer Metaebene die Herausforderungen von Forschung und Praxis zu diskutieren. Eines hat sich dabei klar herauskristallisiert: Es braucht mehr Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Praxis, um die Möglichkeiten der Verhaltensökonomie voll ausschöpfen zu können. Darüber hinaus zeigen viele Beispiele, dass Menschen sich nur dann einen Anstupser für ein besseres Verhalten geben lassen, wenn sie auch wirklich in diese Richtung gehen wollen. Bedenken Sie das bei ihrem nächsten Event, damit das Mittagessen ein voller Erfolg wird und nicht zu Stress in der Küche und zu Frust bei den Gästen führt.