“Mit einer Impfpflicht ist es längst nicht getan“ Gerhard Fehr im Interview mit dem Falter

Der Staat will die Impfpflicht. Keine gut Idee, sagt der Verhaltensökonom Gerhard Fehr im Interview mit der österreichischen Wochenzeitung “Falter”. Die Bevölkerung könne man mit intelligenteren Methoden in den Impfbus locken.

“Mit einer Impfpflicht ist es längst nicht getan“ Gerhard Fehr im Interview mit dem Falter

Die Bodenschwingungen verraten uns: Der Lockdown, am 22. November erst verhängt, wirkt nicht recht. Zuhause bleiben die Menschen jedenfalls nicht. Die Wetterwarte ZAMG berichtet am 26. November von einem nur „schwachen Rückgang der Bodenvibration“. Die Erdbebenmessgeräte registrieren von Menschen verursachte Bodenschwingungen, in Wien lagen diese in den vergangenen Tagen nur fünf Prozent unter den Werten der Vorwochen. In den Bundesländern ist es ähnlich. Die Zahlen, sie fallen nicht unter 10.000 Neuinfektionen. Pro Tag.

1,2 Millionen behördlich registrierte Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Erreger meldet das Gesundheitsministerium zu Wochenbeginn, die letzten 400.000 verzeichnet allein der November. Eine magere Impfrate von 65 Prozent kann sich dem Virus nicht entgegenstellen. Krebsoperationen werden wegen der hohen Auslastung der Intensivbetten durch Covid-Patienten verschoben, in Salzburg rät der oberste Krankenhausmanager den Menschen von Risikosportarten ab. Seit Montag ist außerdem amtlich: Die neue Virusmutation Omikron ist in Österreich angekommen. Sie weist deutliche Veränderungen am Spike-Protein auf, jenem Eiweißstachel, mit dem das Coronavirus die menschliche Zelle „knackt“.

Der Lockdown als Notbremse, eine Impfpflicht als künftiger Wellenbrecher, das hat die Politik beschlossen. Ab Februar soll im Land eine allgemeine Impfpflicht gelten. Die Zahl der Erststiche ging nach der Ankündigung zurück.

Wie sinnvoll ist das alles? Der Verhaltensökonom Gerhard Fehr beforscht, mit welchen Anreizen man Menschen in die eine oder andere Richtung lenken kann. Fehr leitet gemeinsam mit seinem Bruder, dem führenden europäischen Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr, das Beratungsunternehmen FehrAdvice & Partners mit Standorten in Zürich und Wien. Der Falter erreicht Fehr in seiner Wohnung im schweizerischen Winterthur, das „odr“ am Satzende verrät den Vorarlberger.

Falter: Herr Fehr, Österreich will als erstes Land in Europa ab Februar eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus einführen. Ist es damit jetzt getan?

Gerhard Fehr: Wir könnten das Gespräch hier mit einem Wort beenden: nein. Das wäre die kurze Antwort (lacht). Die längere: Wir müssen uns bei jeder Maßnahme die Frage nach den Nebenwirkungen stellen. Nebenwirkungen können auch sein, dass die Menschen sich radikalisieren und sich über Jahre aus dem politischen, gesellschaftlichen Leben verabschieden, gar nicht mehr wählen gehen oder möglicherweise ihre Stimme Parteien geben, die sich nicht in der Mitte der Gesellschaft befinden, sondern eher an den Rändern. Damit kommt ein extremes politisches Gedankengut – wenn ich es so nennen darf – in die Mitte der Gesellschaft. Das ist immer sehr gefährlich. Mir fehlt in Österreich die Strategie hinter dem Ma.nahmenbündel, also schlichtweg, dass die Maßnahmen komplementär ineinandergreifen. Dass nicht heute das und morgen das andere gilt, sondern dass am Ende des Tages ein gesamthaftes Bild herausschaut und nicht Fragmente guter Absichten, die nicht miteinander kombinierbar sind.

In der Verhaltensökonomie gibt es ja die Grundregel, dass man mit „soften“ Maßnahmen beginnt.

Fehr: Ja, genau, weil diese eine verhältnismäßig große Wirkung bei gleichzeitig wenigen bis gar keinen Nebenwirkungen erzielen. In Österreich hat die Regierung im Corona-Management aber solche gar nicht in Betracht gezogen und ist schnell zu sehr eingreifenden Maßnahmen wie der 3-G-Regel übergegangen. Es sind die Reihenfolgen der Maßnahmen nicht eingehalten worden, und deshalb sind wir jetzt am Ende sehr schnell bei der Impfpflicht gelandet.

Zu schnell?

Fehr: Vielleicht ist die Impfpflicht angesichts der aktuellen epidemiologischen Lage der Weisheit letzter Schluss und man kommt ihr nicht mehr aus.

Wenn die Politik zu lange zögert, muss sie dann umso drastischere Maßnahmen setzen. Wie hätte eine richtige Reihenfolge ausgesehen?

Fehr: Am Anfang steht die Freiwilligkeit. Dann muss ich mich um die Leute bemühen, ihnen eine Einladung zum Impftermin schicken, eine Telefonnummer angeben, wo sie den Termin absagen können. Opt-out nennen wir Verhaltensökonomen das. Einen Dialog mit den Leuten einzugehen, darum geht es. Unsere Studien zeigen, dass 20 Prozent derjenigen, die den Termin am Telefon absagen, den nächsten, den man ihnen anbietet, wahrnehmen. Entscheidend ist auch, dass der Brief als Einladung, nicht als eine behördliche Vorladung formuliert ist. Wenn ich die Leute am Telefon habe, kann ich auch gezielt auf sie eingehen.

Wie denn?

Fehr: Wer zum Beispiel angibt, aus Angst vor der neuen Impftechnologie zu zögern, den können geschulte Callcenter-Mitarbeiter an ein medizinisches Team zur Aufklärung weiterleiten. Das sind die soften Maßnahmen. Hätte man eine solche Möglichkeit im Sommer geschaffen, dann würden wir jetzt bei einer Impfrate von nicht 65 Prozent, sondern 75 oder vielleicht sogar 80 Prozent stehen. Und wenn jetzt die Bundesländer stolz verkünden, dass sie Briefe mit Terminen ausgeschickt hätten, dann sage ich: Das ist nur der erste Schritt. Entscheidend ist eben dieser Dialog, diese Beziehung, die wir aufbauen. Es geht nicht darum, dem Bürger, der Bürgerin zu sagen, dass sie schlechte Menschen sind, weil sie die Impfung verweigern, sondern es geht darum, eine Wahlmöglichkeit zu schaffen. Das schließt mit ein, einmal nein sagen zu dürfen. Die meisten werden sich umentscheiden. Den harten Kern der Neinsager wird nicht einmal die Geldstrafe wirklich bewegen. So soll’s sein, so ist eine liberale, offene Gesellschaft auch strukturiert. Es dürfen halt nicht zu viele sein.

Könnte eine Impfprämie helfen?

Fehr: Eine Impfprämie hätte wohl eine Wirkung, ja. Es gibt eine neue Studie, die zeigt, dass man mit verhältnismäßig wenig Geld – ich sage jetzt einmal 20 Euro – vier bis fünf Prozent zusätzlich für die Impfung gewinnen kann. Doch ich sehe zwei Probleme. Erstens wäre Fairness hier ein Thema. Und zweitens werden wir uns wohl nicht das letzte Mal impfen lassen müssen. Wenn es nur darum ginge, in einer einmaligen Aktion noch viele Leute zur Impfung zu bringen, dann könnte eine Prämie helfen. Aber was, wenn wir im Sommer wieder einen Booster brauchen, wenn Delta mutiert? Dann fängt die Chose wieder von vorn an. Und dann wären die Leute daran gewöhnt, dass sie fürs Impfen bezahlt werden. Solche Szenarien dürfen wir nicht aus den Augen lassen.

Die Maßnahmen dürfen den nächsten Impferfolg nicht konterkarieren.

Fehr: Genau, das ist jetzt die größte Gefahr. Dabei ist die Impfung so ein geniales Instrument. Sie ist fast nebenwirkungsfrei, hat extrem hohe Wirkung, holt uns aus der Krise. Zwei Stiche, drei Stiche, möglicherweise viele. Wir müssen die Bevölkerung in einen Habit bringen, wo sie sich „automatisch“ boosten lässt, wenn es notwendig ist, um wieder ein, zwei, drei Jahre gemeinsam problemlos leben zu können. Sonst wird das alles extrem zäh. Und wir stehen nächsten Herbst wieder da, wo wir jetzt sind.

Die Impfpflicht ist eher die Peitsche denn das Zuckerbrot. Vergraule ich die Menschen damit nicht endgültig?

Fehr: Der Staat muss seine Staatsmacht sehr mit Bedacht einsetzen. Wenn in der zweiten Februarwoche ein Ungeimpfter zur Impfung geht, nachdem er eine Verwaltungsstrafe bekommen hat, dann sollte der Staat ihm diese erlassen. Oder das Geld gutschreiben. Nachsicht, nicht Exekution! Dem Bürger gegenüber darf die Augenhöhe nicht verlorengehen. Dafür besteht bei der Impfpflicht ein gewisse Gefahr.

Hätte es die Impfbereitschaft erhöht, die Tests kostenpflichtig zu machen? Der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer hat das wieder in die Diskussion geworfen.

Fehr: Finanzielle Anreize wirken nur bei denjenigen, die grundsätzlich bereit sind, sich impfen zu lassen. Die machen es dann eben schneller. Aber die Maßnahme ist kurzsichtig, weil es weiterhin Sinn machen wird, dass die Leute sich auch testen lassen. Impfen und Testen sind ein komplementäres Gut, solange wir nicht die letzte Welle haben. Wenn wir wüssten, dass danach alles vorbei wäre, dann sähe die Sache anders aus. Mit kostenpflichtigen Tests entwöhnen wir die Bevölkerung aber dessen, sich testen zu lassen, wir würden die bestehende Testkultur kaputtmachen. Weniger Menschen würden in die Teststraßen gehen oder gurgeln, die Behörden würden die Infrastruktur zurückbauen, die dann bei der nächsten Welle fehlt. Dann müsste man die Menschen wieder in die Testgewohnheit bringen, was Zeit kostet und nichts ist wichtiger als Tempo in dieser Pandemie. Sie sehen: Kostenpflichtige Tests sind eine schlechte Maßnahme, die einen Rattenschwanz an Problemen nach sich zieht. Solange Geimpfe das Virus weitergeben – in welchem Ausmaß auch immer –, müssen wir froh um die Tests sein. Auch um den Überblick über die Mutationen zu behalten.

Sie haben zahlreiche Politikerinnen und Politiker beraten. Warum tun sich die Regierenden im Pandemiemanagement eigentlich so schwer?

Fehr: Ich stelle die Frage andersrum: Ist die Politik überhaupt in der Lage, dieses Problem zu lösen? Schauen wir in die Geschichte. Über Jahrhunderte haben Finanzminister mit der Inflation gekämpft. Sie konnten der Versuchung nicht widerstehen, die Geldpresse bei Bedarf anzuwerfen. Sie hatten ja die Macht darüber. Das eigentliche Ziel, nämlich die Geldwertstabilität für Bürgerin und Bürger zu garantieren, die Sicherheit, dass das, was ich heute verdiene, morgen noch einen Wert hat, wurde nicht erreicht

Wie ist man da herausgekommen?

Fehr: Indem die Regierenden beschlossen haben, das Geldmanagement abzugeben, und indem sie Notenbanken gegründet haben. Das Direktorium dort besetzt immer noch die Politik, aber das Direktorium beruft sich auf eine unabhängige Governance. Das Wesen der politischen Entscheidungsfindung ist ein gesellschaftlicher Prozess des Interessenausgleichs, Regierende sind nicht dazu da, Probleme zu lösen, sondern die Last auf alle fair zu übertragen. Die Entscheider haben das für den laufenden politischen Betrieb, für das Tagesgeschäft super gelernt, das funktioniert. Das finden die Leute mitunter fad, das ist aber der Wesenskern der „klassischen Politik“. Ein Virus verlangt aber eine völlig andere Herangehensweise, es verlangt nach anderen Spielregeln. Ich möchte keinem Politiker, der die letzten 20 Monate an den Hebeln der Macht oder sozusagen am Lenkrad war, einen Vorwurf machen. Ich kreide der Politik nicht an, keine Lösung zu finden, sondern immer noch daran zu glauben, dass sie das überhaupt könne.

Im Herbst 2021, im zweiten Jahr der Pandemie mit entsprechenden Warnungen aus der Wissenschaft, funktioniert „Wir wussten es nicht besser“ nicht mehr ganz.

Fehr: Das wäre eine angemessene Kritik, wenn wir für epidemiologische Ausnahmesituationen Governance-Strukturen hätten, die es den Entscheidungsträgern möglich machen würden, gute Entscheidungen zu treffen. Die haben wir heute nicht. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir immer wieder dieselben Fehler machen, wenn wir das Rundherum, wenn wir die Struktur nicht verändern.

Wie könnte die „Corona-Notenbank“ aussehen?

Fehr: Ganz wichtig: Ich spreche nicht von Expertenstäben. Wir haben genug Experten zu diesem Thema. Jedes Land hat jetzt schon seinen Chefvirologen. Es geht um ganz neue Gremien, die Entscheidungen treffen und dafür auch den Kopf hinhalten. Da können Wissenschaflerinnen und Wissenschafler mitmachen, aber was wir brauchen, sind „highly trusted people of the society“.

So wie in Portugal, wo der hochdekorierte Marinegeneral Henrique Gouveia e Melo das Impfmanagement übernommen hat und die Bevölkerung de facto durchgeimpft hat.

Fehr: Zum Beispiel. Wir haben in Österreich eigentlich ein riesiges Glück, weil die Bevölkerung den Regierungen viel Vertrauen schenkt. In der Corona-Krise dreht sich das aber fast in einen Nachteil, weil die Leute an das Pandemiemanagement nicht mehr glauben. Das kann ich ihnen nicht vorwerfen, das ist normal, wenn es systematisch keine Erfolge bringt. Die Portugiesen hatten da gewissermaßen einen Vorsprung, weil sie der Regierung traditionell nicht trauen. Die Portugiesen fanden schon vor der Corona- Krise mehrheitlich, dass die in Lissabon nicht wirklich viel auf die Reihe bringen. Die portugiesische Regierung hat sich also gar nicht überlegen müssen, ob sie als der große Corona-Bekämpfer auftreten soll. Für die war es sehr einfach zu verstehen, dass es gut ist, wenn sie ein Gremium oder eine Institution finden, die der Absender dieser folgenden Botschaft ist: „Liebe Portugiesen, ein schwerer Weg liegt vor uns, wir müssen eine gemeinsame gesellschaftliche Anstrengung schaffen, und wir sagen euch das nicht, weil wir gewählt werden wollen, sondern aus einem einzigen Grund, damit Portugal wieder aus der Misere kommt, und nachher sind wir wieder weg.“

Die österreichische Regierung hat sich für die Drachenkämpferrolle entschieden …

Fehr: Seien wir doch froh, dass wir Politiker haben, die sich da überhaupt noch hinstellen. Das ist eine heroische Aufgabe. Sie gehen sie halt aus den genannten Gründen falsch an. Gerade in Österreich mit seinem föderalen System könnten wir sehr dezentral arbeiten. Wir könnten in Tirol andere hochangesehene Persönlichkeiten einsetzen als in Niederösterreich. Entscheidend ist: Es darf nicht der Landeshauptmann, der sich als Landesvater geriert, sein. Es gibt wenige Dinge, die so ideologiefrei sind wie das Virus. Es mutiert, wie es will, es ist ihm völlig wurscht, ob der Grüne, der Rote oder der Schwarze das will oder nicht. Und alle profitieren davon, wenn es weg ist. Das ist ja immerhin das Schöne. Nehmen wir Dänemark: Dort vertrauen fast 72 Prozent der Bevölkerung der Regierung in hohem Maße. Aber selbst in Dänemark hat es eine Stillhaltevereinbarung unter allen Parteien, auch jenen vom Rand, gegeben, dass das Virus nicht zum Wahlkampfthema gemacht wird. Insofern haben die Dänen es geschafft, das zu einem ideologiefreien Space zu deklarieren. Es gibt dort eben nicht den Übertypen, der das macht und der sich die Lorbeeren holen will. Da braucht es Demut. Wir müssen den Regierenden zurufen: Politiker, bitte versteht, ihr seid die Lösung, indem ihr akzeptiert, dass ihr nicht die Lösung seid. Schafft die richtigen Gremien mit Menschen, die ihre Reputation zur Verfügung stellen, wissend, dass die auch beschädigt werden kann.

Wer konkret könnte das machen?

Fehr: Man muss schauen, welche Institutionen in einem Bundesland die höchste Reputation genießen. Ist es die österreichische Gebietskrankenkasse in Vorarlberg, ist es möglicherweise die Caritas? Wo finden sich altgediente Politiker, die sich in den Dienst der Sache stellen? Diese Leute zu finden, mit ihnen zu sprechen, sie zu überzeugen, mitzumachen, das wäre Leadership. Langfristig werden wir solche Gremien institutionalisieren, sonst kommen wir nicht aus der Pandemie heraus. Und aus der möglichen nächsten dann auch wieder nicht. Auf die Schnelle muss man jetzt herumprobieren, was funktioniert. In Portugal hat man es mit der Armee probiert, in Österreich würde ich das einmal nicht empfehlen.

Den Impfskeptikern, die es zu überzeugen gilt, steht eine Mehrheit an Geimpften gegenüber. Sie haben im Sinne der Gemeinschaft gehandelt. Sehen Sie die Gefahr, dass diese Gruppe wenig Verständnis für einen „Kuschelkurs“ gegenüber den Ungeimpften zeigt?

Fehr: Wenn wir es schaffen, auf die notwendige Impfrate von 85, 90 Prozent zu kommen, und die Immunität halten können, wenn wir also die Krise überwinden, dann werden wir diese Gräben verhältnismäßig schnell überwinden. Die Leute lieben nichts mehr als Erfolg. So banal ist es.