NEWS: Seit zwei Jahren plagt sich die Welt mit der Coronapandemie. In Österreich wurden die Maßnahmen gelockert. Um den Preis, dass die Coronazahlen stark steigen. Was macht dieses Hin und Her mit uns? Würden die Leute strengere Regeln akzeptieren?
Gerhard Fehr: Strenge Regeln lassen sich in jedem Fall wieder durchsetzen, wenn es geboten erscheint. Zudem brauchen sich Politiker davor auch nicht zu fürchten, denn viele Menschen werden die Erlebnisse der Covid-19- Pandemie schnell wieder vergessen, weil die meisten von uns nicht tagtäglich daran erinnert werden, wie groß das Leid war und wie sehr man sich einschränken musste. Wenn die Zahlen wieder niedrig sind, heißt es frei nach Monty Python: „Happy days are here again.“
Es gibt nach wie vor eine lautstarke Protestbewegung gegen Corona-Maßnahmen. Was bewegt diese Menschen?
Da gibt es ein klares Muster. Nicht die Pandemie hat diese Menschen so gemacht, sondern Persönlichkeitsfaktoren, die sie weniger gut mit solchen Situationen umgehen lassen. Hierzu zählen etwa eine hohe Anfälligkeit für Narrative, die einer Faktenbasis entbehren, oder auch ein Hang zu Verschwörungstheorien. Zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung sind dieser Gruppe zuzurechnen. Diese Gruppe hat es schon immer gegeben und wird es immer geben. Das Schöne ist ja, dass unsere Demokratie und unsere offene Gesellschaft es ermöglichen, dass diese auf die Straße gehen können. Übrigens gibt es diese Gruppen in allen Ländern, unabhängig von der jeweiligen Pandemiebekämp-fungsstrategie. Das ist ein Menschentyp, der grundsätzlich nicht bereit ist, mitzumachen, und das auch noch lautstark kundtun will. Aber das hat sehr wenig mit Politik zu tun. Nicht die Regierung hat diese Leute auf die Straße gebracht. In der Pandemie haben sich auch keine neuen Gräben aufgetan, die es nicht vorher schon gegeben hätte.
Die Regierung hätte nichts anders machen können?
Was das betrifft, leider nein. In jedem Land gab es in einem gewissen Ausmaß eine Protestgruppe. Das ist völlig normal und wird sich zum Glück auch schnell wieder beruhigen.
Warum werden wir die Pandemie schnell vergessen?
Es gibt ein Prinzip in der Verhaltensökonomie: „What you see is all there is.“ Dieser vom Nobelpreisträger Daniel Kahneman geprägte Begriff beschreibt den Effekt, dass unser Gehirn blitzschnell aus den ihm vorliegenden Informationen eine möglichst plausible Geschichte bastelt. Dabei werden echtes Wissen, Erfahrungswerte und Informationshappen vermischt und daraus Schlüsse gezogen. Das Problem dabei ist, dass es hier abenteuerliche Logiksprünge geben kann, die manchmal jeder Plausibilität entbehren. Im Narrativ bleibt die mangelnde Plausibilität jedoch unerkannt. Aber genau das passiert auch bei der Pandemie. Die meisten von uns können das Virus gar nicht systematisch verstehen. Kommt es dann zu einem exponentiellen Wachstum, sind wir überrascht. Hinzu kommt, dass viele davon ausgehen, dass sie das Ganze nicht betrifft. Die Menschen überschätzen die eigene Gesundheit und können auch mit Wahrscheinlichkeiten meist nichts anfangen. Und: Zum Thema Impfung gab es schon immer eine große Irrationalität.
Die größte Aufregung gab es zuletzt um die Impfpflicht. Was macht es mit unserem Vertrauen in die Gesetzgebung, wenn man eine so harte Maßnahme beschließt und dann so schnell wieder über Bord wirft?
Politiker sind auch nur Menschen. Und Menschen lieben nichts so sehr wie konstante Situationen. Aber das Virus mutiert. Wir hatten die Delta-Variante, die eine Gefahr für das Gesundheitssystem darstellte, darum hat man die Impfpflicht eingeführt. Jetzt haben wir Omikron, welches ein völlig anderes Gefahrenpotenzial birgt und die Impfpflicht nicht mehr notwendig macht. Wenn man nun kommuniziert, dass man dieses Instrument in Zukunft einsetzen kann, aber jetzt eben nicht einsetzen muss, werden es die Geimpften problemlos akzeptieren.
Und die Impfskeptiker hätte man mit der Impfpflicht ohnehin nicht erreicht?
70 bis 80 Prozent der Menschen in Österreich sind geimpft. Wir reden immer vom Misserfolg, aber die gegenwärtige Höhe der Impfquote ist doch eigentlich ein Erfolg. Stellen Sie sich vor, es käme eine Variante, die hoch ansteckend und gefährlich für Kinder unter fünf Jahren ist. Sie hätten innerhalb einer Woche eine hohe Akzeptanz für die Impfpflicht. Unser Vorteil ist dann, dass wir das Gesetz schon durchs Parlament gebracht und die Demos hinter uns gelassen haben.
Verstehe ist Sie richtig: Die Regierung hat es im Hinblick auf Maßnahmengegner und Impfpflicht nicht schlecht gemacht?
Man kann schon sagen, dass das global die erste Pandemie ist, die sehr professionell, sehr schnell ohne hohen Schaden für die Bevölkerung gemeistert wurde. Das hat damit zu tun, dass es ein gutes Zusammenspiel zwischen Staat und Markt gegeben hat. Darum hatte man so schnell eine Impfung entwickeln können. Auch die wirtschaftlichen Maßnahmen waren größtenteils sehr sinnvoll. Aber: Natürlich hat man nicht alles richtig gemacht. Was nicht gut geklappt und uns viele Probleme bereitet hat, ist die gesamte Kommunikation und das setzt sich leider weiter fort. Wir wissen zwar nicht, was der Herbst bringen wird, aber in Österreich gibt es die extreme Tendenz, zu glauben, dass die Pandemie vorbei ist.
Auch jetzt gerade.
Wir haben ein großes Talent in der Politik, zielgerichtet die falschen Kommunikationsstrategien zu wählen. Aber Kommunikation ist das Gleitmittel bei allen Maßnahmen. Politiker müssen lernen, dass man in Szenarien kommuniziert, aber auf viele Fragen keine konkreten Antworten liefern kann. Das liegt in der Natur der Sache. Es ist ja nicht schlimm, zu sagen, dass man etwas nicht weiß, aber die Gesamtstrategie muss dennoch stimmen. Die wäre eigentlich einfach: Wir wissen nicht, was das Virus als Nächstes macht. Aber wir be- reiten uns so penibel wie möglich auf eventuelle Szenarien vor. Wir haben die Impfung, die bereits für die nächsten Varianten adaptiert wird. Wenn das Virus wieder gefährlicher wird, werden wir das genau und zeitnah analysieren. Aber zum jetzigen Zeitpunkt war es gerechtfertigt, aufzumachen.
Schon jetzt gibt es Stimmen, die sagen, man müsste wieder Einschränkungen verordnen. Geht das überhaupt noch?
Viele meinen, die Leute gewöhnen sich an die Freiheit und wollen dann nicht mehr zurück. Dabei ist es genau umgekehrt. Die Leute bekommen wieder Energie und Kraft für das, was in Zukunft kommt. Resilienz entsteht nicht, indem man permanent im Gefahrenmodus verharrt. Das lässt uns nur unbeweglich werden. Die Öffnungen bringen die Menschen dazu, die nächsten Maßnahmen besser zu akzeptieren. Das ist einer der wichtigsten Gründe für Lockerungen.
Voriges Jahr hat man gelockert. Später hat man gesagt, das war zu früh. War der Fehler nicht eher, zu sagen: „Es ist vorbei“?
Es war ein Fehler, das zu kommunizieren – und das auch noch selbst zu glauben. Wichtig ist, dass die Politiker nun daraus gelernt haben und sich nun auf den Herbst vorbereiten. Zudem müssen die Politiker klarer kommunizieren: Diese Pandemie ist eine Reise, von der wir nicht wissen, wann sie zu Ende ist. Das ist leider nicht so einfach, wie man gerne glauben möchte, denn wir Menschen wollen bei allen Dingen einen Anfang und ein Ende sehen, aber das Ende kennen wir leider nicht. Auch die Fragen nach der Dauer von Lockdowns oder Coronawellen lassen sich nicht so einfach beantworten, obwohl das natürlich für Planungssicherheit in der Wirtschaft sorgen würde. Aber woher soll ein Politiker wissen, wie sich eine bestimmte Coronavariante verhält und welche Auswirkungen in drei oder vier Wochen zu erwarten sind? Hier sollten Politiker einfach ehrlich sein und sagen: „Ich kann Ihnen das nicht sagen. Wir haben viele Interessenlagen, und natürlich würden wir gerne öffnen. Sie können sicher sein, dass wir das genau prüfen und sofort öffnen, sobald es möglich ist.“ Das ist eine völlig andere Kommunikationsstrategie, als zu sagen: „Wir öffnen am Tag X.“ Wird am Tag X nicht geöffnet, werden Erwartungen nicht erfüllt und der Aufschrei ist groß.
Wenn wir uns schon so schwertun, die Pandemie, die unmittelbar da ist, zu verstehen, wie kann man dann die Menschen überhaupt dazu bringen, die Klimakrise zu verstehen und sich richtig zu verhalten?
Bei kurzfristigen Bedrohungen wie dem Ukraine-Kkrieg sehen wir, dass sich zum Beispiel die Energiepolitik ganz schnell ändern kann, und das verstehen die Menschen auch. Aber bei Bedrohungen in ferner Zukunft und wenig greifbaren Wahrscheinlichkeiten ist das deutlich komplexer. Der Klimawandel kommt schleichend und nicht als Sintflut. Wir nehmen die Veränderungen nur bedingt wahr. Das führt zu einer völlig anderen Wahrnehmung bei den Menschen. Laut Studien glaubt der Großteil der Bürgerinnen und Bürger, dass sowohl die Natur als auch der Mensch Ursachen für die Klimaveränderungen sind. In so einem Fall gibt man bevorzugt dem mehr Gewicht, mit dem man selbst weniger zu tun hat. Wären 90 Prozent der Meinung, der Klimawandel ist menschengemacht, hätte die Politik eine völlig andere Grundlage für Manöver. Dieses Bewusstsein haben wir aber nicht, und das wirkt sich auch auf unser Verhalten aus. Nur rund 30 Prozent sind zu einer Verhaltensänderung aufgrund des drohenden Klimawandels bereit.
Welche Möglichkeiten hat die Politik dann überhaupt?
Wir werden es nicht mit Verhaltensänderungen allein schaffen, aber auch mit Verhaltensänderungen. Und wir werden es nicht nur über neue Technologien schaffen, aber auch mit neuen Technologien, denn diese können neues, klimaschonendes Verhalten erleichtern. Diese Technologien entstehen – analog zur Impfung – durch die Zusammenarbeit von Staat und Privatwirtschaft. Wir brauchen auf der einen Seite Anschubfinanzierungen und auf der anderen Seite Menschen und Unternehmen, die gute Ideen extrem schnell umsetzen können. Wenn die Bürgerinnen und Bürger neue praktische Tools bekommen, kann das auch sehr schnell einen großen Einfluss auf Gewohnheiten haben. Denken Sie an das Smartphone und wie dieses unser Leben in knapp 15 Jahren verändert hat. Die aktuelle Krise lässt Leute darüber nachdenken, ob sie weiter mit Gas heizen wollen. Es gibt so etwas wie einen Kollateralnutzen. Das ist eine ökonomische Verhaltensänderung, die nicht aus Überzeugung passiert. Aber für die Politik ist das die Gelegenheit, Weichen zu stellen und zu sagen, jenseits ideologischer Überzeugungen ist man bereit, schneller an der Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern zu arbeiten. Denn wenn die Preise wieder runtergehen, wird es mit der Verhaltensänderung vorbei sein.
Ist der Effekt wenigstens bei Politikern nachhaltig?
Das ist derzeit eindeutig und das Gute ist, es gibt noch immer finanzielle Spielräume. Wir müssen jetzt aber sehr schnell folgende Fragen klären: Welche neuen Energiequellen erschließen wir uns für die Zukunft? Wo kommt der technologische Fortschritt her? Wie können wir Innovationen bei den Konsumenten implementieren? Diese Fragen werden in Krisenzeiten schneller gelöst, weil die Notwendigkeit zu handeln gegeben ist und alle an einem Strang ziehen. Was aber aus Sicht des Verhaltensökonomen nicht passieren darf, ist, dass Regierungen einfach Geld verteilen. Das zementiert nur den Status quo, kostet viel und hat keine Wirkung. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass, je unabhängiger der Verteilungsmechanismus von der Politik ist, desto erfolgreicher waren Investitionsprogramme. Natürlich muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, aber die Verteilung der Mittel muss über unabhängige Gremien erfolgen.
Sind die Aufrufe an die Menschen, etwas für das Klima zu tun, vergeblich?
Dahinter steht oft der Glaube, dass Wachstum etwas Schlechtes sei. Wir brauchen Wachstum, aber besseres Wachstum durch neue und ökologischere Technologien. Zudem muss sich die Politik endlich eingestehen: Es gibt kein Entweder- oder und daher sollte man das eine nicht gegen das andere ausspielen. Die Kunst besteht darin, das Beste miteinander zu verknüpfen.
Von Renate Kromp, erschienen in NEWS 11/2022