VN: Glauben Sie, dass die Moral in unserer Gesellschaft in den letzten 50 Jahren abgenommen oder zugenommen hat?
Gerhard Fehr: Menschen in mindestens 60 Ländern weltweit, auch in Österreich, glauben, dass die Moral abnimmt. Sie empfinden, dass die Menschen heute weniger ehrlich, weniger freundlich und weniger hilfsbereit sind als in der Vergangenheit.
VN: Warum glaubt dies ein Großteil der Menschen?
Gerhard Fehr: Häufig neigen Menschen dazu, mehr negative als positive Informationen über die Moral von Personen, die sie nicht persönlich kennen, wahrzunehmen. Negative Informationen haben eine stärkere emotionale Wirkung und bleiben länger im Gedächtnis als positive Informationen. Dadurch entsteht bei uns der Glaube, dass die Menschen heute nicht so nett, ehrlich oder gut sind wie früher.
VN: Stimmt das auch, ist unsere Wahrnehmung über den Zerfall von Moral richtig – war früher wirklich alles besser? Und wie beeinflusst dies unser Verhalten?
Gerhard Fehr: Menschen handeln heute genauso moralisch wie früher. Unsere Wahrnehmung, dass die Moral abnimmt, entspricht nicht der Realität. Dennoch kann diese Wahrnehmung unser Verhalten beeinflussen, indem sie uns misstrauischer macht und unsere Bereitschaft verringert, anderen zu helfen oder ihnen zu vertrauen. Zudem kann sie uns anfälliger für politische Versprechen machen, die eine Rückkehr zu vermeintlich besseren Zeiten versprechen. Oft ein erfolgreiches Rezept von populistischen Parteien.