Luca Geisseler, wie bringen Sie mich dazu, meine Wellnessferien in der Schweiz und nicht in Österreich zu buchen?
Nun, die meisten Leute gehen wie Sie davon aus, dass Österreich günstiger ist. Und was die Leute glauben – in der Verhaltensökonomie sprechen wir von Beliefs –, ist weit entscheidender als das, was wirklich Fakt ist.
Die Schweiz ist aber eine Hochpreisinsel.
Deshalb sollten sich hiesige Touristiker nicht unbedingt über den Preis positionieren. Denn da beginnen die Leute sofort zu optimieren. Nach dem Motto: Es gibt sicher ein Hotel, das noch günstiger ist. Die Leute wollen möglichst viel für ihr Geld herausholen. Ein Hotel sollte nur dann mit dem Preis argumentieren, wenn es tatsächlich sein Alleinstellungsmerkmal ist, wenn es also wirklich das günstigste am Platz ist. Sprich: Diese Strategie stimmt genau für einen, für alle anderen nicht.
Aber wenn die Leute glauben, dass die Schweiz teuer ist, muss man doch irgendwie dagegenhalten.
Eben nicht. In dem Moment, in dem Sie das tun und den Preis erwähnen, verstärken Sie bloss das negative Bild der Schweiz als Hochpreisinsel.
Wie das?
Wenn Sie sagen: Wir sind doch gar nicht so teuer, dann sagt der potenzielle Gast: Aber Österreich ist trotzdem billiger. Thematisiert man den Preis, hat man schon von Anfang an verloren.
Womit können Schweizer Touristikerinnen und Hoteliers punkten?
Die Frage ist, wo sind wir glaubwürdig? Ich würde es mit einem Vorstellungsgespräch vergleichen. Da spreche ich auch nicht über Dinge, die meine Konkurrenten besser können, sondern über meine Stärken. Und da kommen Werte ins Spiel. Die Schweiz mag zwar teuer sein, aber unser Land steht für Qualität, Serviceorientierung, traumhafte Landschaften und vieles mehr.
Dafür steht Österreich aber genauso.
Die Angebote sind tatsächlich sehr ähnlich und oft austauschbar. Das gilt aber nicht nur für den Tourismus, das ist überall so. Nehmen wir zum Beispiel die dritte Säule. Aus Studien wissen wir, dass die Leute nicht unbedingt zu der Bank gehen, welche die besten Konditionen bietet, sondern zu jener, die ihnen am sympathischsten ist. Unternehmen müssen also auf der Beziehungsebene punkten. Genauso ist es im Tourismus. Es geht um Verbundenheit, um Gastfreundschaft. Man muss sich mit einem Hotel identifizieren können, da hat der Schweizer Tourismus sehr viel Potenzial.
Wo sehen Sie Luft nach oben?
Zum Beispiel bei der Vorleistung. Wenn Sie und ich in Kontakt treten wollen, dann muss einer von uns den ersten Schritt machen. Das Hotel müsste dem potenziellen Gast also ein Beziehungsangebot machen, damit dieser weiss, wie sehr seine Anwesenheit geschätzt würde.
Meist passiert der erste Kontakt übers anonyme Internet. Wie kann man da bereits eine Beziehung aufbauen?
Ich finde, online ist es fast einfacher als in der analogen Welt. Den digitalen Kontakt kann man nämlich skalieren. Das heisst, die Tagesform der Person an der Réception, die mein erster Kontakt mit einem Hotel in der realen Welt ist, spielt im Internet keine Rolle. Digital kann ich den ersten Kontakt automatisieren, und dadurch bleibt die Qualität immer gleich hoch.
Viele Leute buchen über Portale wie Booking.com. Wie soll man da als Hotel eine Beziehung zum Gast herstellen?
Da läuft tatsächlich viel über die Preisoptimierung ab. Aber nicht nur. Die Gästebewertungen sind ebenso ausschlaggebend. Wenn Hoteliers Stellung zu den Bewertungen beziehen, haben sie auch einen gewissen Spielraum, einen Eindruck beim potenziellen Gast zu hinterlassen. Die Kunst ist, das Menschliche in die digitale Welt zu transferieren.
Online muss doch alles vor allem praktisch und schnell sein.
Das ist ein Trugschluss. Online muss userfreundlich sein, ja. Aber das allein reicht nicht. Der Gast sucht die Beziehung digital genauso wie in der realen Welt. An der Réception sagt man mir als Erstes: Herzlich willkommen, Herr Geisseler, schön, sind Sie da! Digital sagt mir das niemand.
Sollte man also Chatbots einführen?
Davon würde ich im Tourismus dringend abraten. Das Menschliche muss authentisch wirken. Zum Beispiel könnte man mich auf der Website erst einmal herzlich begrüssen, vielleicht sollten sich auch die Gastgeber im Bild zeigen, damit der erste Kontakt persönlich wirkt. Wenn ich mir aber die Websites anschaue, erzählen die meisten Hotels erst einmal über ihre Vorzüge, anstatt sich zu freuen, dass ich auf ihrer Site gelandet bin. Stellen Sie sich vor, an der Réception sagt man dem Gast als Allererstes: Unser Hotel verfügt über 120 elegante Zimmer und Suiten. Online aber macht man das und glaubt, dass sich der Gast willkommen fühlt.
Was ist das A und O einer gelungenen Customer Journey?
Es gibt die sogenannte Peak-End-Regel. Wir Menschen können keine durchschnittlichen Erlebnisse abspeichern, sondern nur die Höhepunkte und die letzten Momente einer Situation. Wenn zum Beispiel ein Fussballmatch völlig belanglos war, aber mein Team am Schluss gesiegt hat, beschert mir das trotzdem ein gutes Erlebnis. Im Tourismus ist diese Regel essenziell. Von meinen zwei Wochen Ferien bleiben mir nämlich nur die besonderen Momente in Erinnerung. Das kann etwas extrem Tolles sein, aber auch, dass mir das Auto gestohlen wurde.
Wie verschafft man seinen Gästen positive Höhepunkte?
Die kleinen Sachen machen den Unterschied. Das bedeutet aber nicht, dass man heutzutage ganz viele digitale Gadgets im Zimmer installiert haben muss. Höhepunkte können viel banaler sein. Es geht um Aufmerksamkeit, darum, dass sich der Gast als Individuum wahrgenommen fühlt.
Was heisst das konkret?
Ich fühle mich zum Beispiel wertgeschätzt, wenn ich ins Zimmer komme und dort ein handgeschriebenes Kärtli von den Gastgebern steht. Wenn ich mit Namen angesprochen werde. Und beim zweiten Frühstück weiss das Personal, dass ich Kaffee und nicht Tee trinke. Aufmerksamkeit kostet eigentlich nicht viel, aber sie ist zentral. Wir alle kennen es aus unseren privaten Beziehungen. Ein Paar ist nicht deshalb glücklich, weil es einmal im Jahr drei Wochen Ferien in einem Luxusresort auf den Malediven macht. Es sind die kleinen Gesten, die eine Beziehung tragen. Wenn man dem Partner am Morgen Kaffee macht oder merkt, dass die Partnerin zu müde ist, um den Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, und es selber übernimmt. Genauso hat der Schweizer Tourismus sein Potenzial dort, wo er persönlich ist. Und wenn das gelingt, interessiert es den Gast nicht, dass die Wellnessferien in der Schweiz etwas teurer sind als in Österreich.
Wie wirkt sich die Pandemie auf das Verhalten der Gäste aus?
Corona hat uns erstens vor Augen geführt, wie schlimm Unsicherheit ist und wie wichtig Beziehungen sind. Zweitens sind wir Gewohnheitstiere, aber wegen der Pandemie waren wir gezwungen, neue Gewohnheiten anzunehmen. Beides ist für den Schweizer Tourismus eine Riesenchance. Man hat es bereits letztes Jahr gespürt. Manche Destinationen hatten einen Rekordsommer, weil Einheimische nicht reisen konnten. Die Frage ist nun: Ist es den Gastgebern gelungen, bei ihren Gästen Vertrauen zu schaffen und neue Gewohnheiten auszubilden? Oder fahren die meisten nächstes Jahr doch wieder lieber ins Ausland ans Meer? Im Grunde hat der Schweizer Tourismus durch die Krise die Möglichkeit erhalten, aus jenen Touristen, die mangels Alternativen kamen, neue Stammgäste zu machen. Das bedingt aber, dass sie letzten Sommer eine positive Erfahrung machen konnten.
Sie interessieren sich als Verhaltensökonom auch für Gamification. Können Sie ein Beispiel geben?
Bei der Gamification geht es vor allem darum, das innere Kind in uns anzusprechen und mit spielerischen Interaktionen ein bestimmtes Verhalten zu beeinflussen. Das bekannteste, wissenschaftlich erprobte Beispiel ist die aufgemalte Fliege in öffentlichen Pissoirs. Männer zielen beim Pinkeln auf die Fliege – dadurch geht bis zu 80 Prozent weniger daneben. Oder wenn eine Region nicht möchte, dass die Leute ihre Zigarettenstummel auf den Boden werfen, stellt man zwei Behälter auf und macht daraus eine kleine Abstimmung: Ein Behälter steht zum Beispiel für Pontresina, wer für St. Moritz schwärmt, wirft den Stummel in den anderen. So kann man die Leute motivieren, ihr Verhalten zu ändern. Gamification muss aber niederschwellig sein, niemand darf sich gesteuert oder gar bevormundet fühlen.
Welche Anwendungsmöglichkeiten sehen Sie in der Hotellerie?
Hoteliers könnten ihre Gäste zum Beispiel dazu animieren, die Restaurants des Hotels auszuprobieren. Wer alle testet, bekommt den Badge Gourmet und vielleicht noch einen Drink spendiert. Oder man ändert die Standardeinstellung bei der Bettwäsche, wenn ein Hotel ökologischer werden möchte.
Standardeinstellung?
In vielen Hotels gilt heute die Regel: Wenn ich nicht will, dass die Handtücher oder meine Bettwäsche gewechselt werden, muss ich zum Beispiel einen Zettel aufs Bett legen. Das ist natürlich mit Aufwand verbunden und geht auch eher vergessen, als wenn ich gar nichts tun muss, um die Umwelt zu schonen. Die Standardeinstellung müsste deshalb sein: Wenn der Gast nichts unternimmt, wird die Bettwäsche nicht gewechselt.
Macht Gamification auch beim Personal Sinn, zum Beispiel als spielerischer Wettbewerb?
Das kann negative Nebeneffekte haben. Im Extremfall arbeiten die Leute nicht mehr zusammen, weil sie sich als Konkurrenz betrachten. Auszeichnungen wie «Mitarbeiter des Monats» können auf andere sehr demotivierend wirken. Genauso Rankings. Wenn jemand so viele Punkte hat, dass man ihn oder sie gar nicht mehr einholen kann, gibt man frustriert auf.
Was haben Sie in all den Berufsjahren über die Menschen gelernt?
Dass wir nicht unbedingt rational sind. Wir sehen uns zwar gern als Homo oeconomicus, der eigennützig handelt und den Gewinn maximal optimiert. Tatsächlich lassen wir uns jedoch viel öfter von Emotionen leiten, weil uns Beziehungen enorm wichtig sind. Wir haben Freude, wenn andere Freude haben, wenn es anderen gut geht. Sehen Sie, wenn in der Schweiz jemand das Portemonnaie verliert, bekommt er es gemäss Experimenten mit 75-prozentiger Sicherheit wieder zurück. Das zeigt doch, dass wir im Grunde sehr liebenswerte Wesen sind.