Wer trifft schon gerne Entscheidungen, die von den Betroffenen als nicht fair, sozial unverantwortlich, notwendig aber einschneidend und im Endeffekt als nicht populär wahrgenommen werden? Dass bereits der Überbringer der Nachricht, obschon in manchen Fällen weder verantwortlich für die Misere noch in den Entscheidungsprozess über die möglicherweise bereits getroffenen Massnahmen für eine Lösung involviert, mit dem Inhalt der Nachricht gleichgesetzt wird, haben uns schon in der Vergangenheit die Könige des Mittelalters gezeigt, die den Kurier bei schlechten Nachrichten einfach töten liessen. Auch Machiavelli riet, im Sinne des Machterhalts, harte Entscheidungen doch zu delegieren und sich auf die positiven Entscheidungen zu konzentrieren. Die Sanktionen sind heutzutage, Gott sei Dank, weniger blutig. Für Entscheidungsträger, die sich jedoch an dieser ungeschriebenen Regel nicht halten wollen, kann dies den beruflichen oder politischen „Tod“ bedeuten.
Als sich gegen Ende des vergangenen Jahres herausstellte, dass die finanzpolitische Lage von Griechenland viel dramatischer war, als von vielen Analysten, Beamten in Brüssel und den einzelnen EU-Staaten allgemein angenommen, begann auf politischer Ebene ein strategisches Spiel, das in weiten Teilen nur einen Zwecke hatte: Delegation von Entscheidung und Verantwortung für die harten Eingriffe, die Griechenland umsetzen wird.
Die Kernfrage war dabei, wie die desaströse finanzielle Lage des griechischen Staates schnell und mit den richtigen Maßnahmen gelöst werden konnte, damit einerseits ein Überschwappen auf die restlichen europäischen Länder verhindert werden konnte und andererseits kein Präzedenzfall geschaffen wurde, der „undisziplinierten“ Staaten aufzeigt, wie Konsequenzen in Zukunft zu umgehen sind, wenn sie sich nicht an die gemeinsamen europäischen finanzpolitischen Ziele halten.
Das Problem an der Sache war jedoch nur, dass niemand bereit war, die Entscheidung über das gesamte Maßnahmenpaket zu treffen. Die griechische Regierung, erst kürzlich gewählt, konnte mit Maßnahmen, welche von der Bevölkerung als „überhart“ wahrgenommen werden, nur verlieren. Falls die Europäische Union solche Maßnahmen diktiert hätte, wäre dies auf die griechische Regierung und die EU zurückgefallen. Der Vorwurf, nicht genügend hart mit der EU verhandelt zu haben, ist ein beliebtes und viel gebrauchtes Mittel der Opposition, um sich auf Kosten der Europäischen Union innenpolitisch zu profilieren. Zusätzlich erschwerend kommt noch hinzu, dass es sich hier nicht um einen klassischen politischen Meinungsbildungsprozess auf europäischem Niveau handelt, sondern um einen Sanierungsfall, der ökonomisch für Griechenland und die EU schnellstens gelöst werden musste. Für diesen Fall besitzt die EU derzeit aus verschiedensten Gründen (noch) keinen institutionellen Rahmen, der als Überbringer der Nachricht und „Masseverwalter“ die Reorganisation und die Verantwortung übernehmen kann.
Zwei Ökonomen der Universität Zürich, Urs Fischbacher und Björn Bartling, haben sich diesem Thema angenommen und in einer experimentellen Studie gezeigt („Delegation of Blame: On Delegation and Responsability“), dass unser laues Bauchgefühl und die machiavellischen Ratschläge stimmen, wenn wir Entscheidungen treffen und implementieren wollen, die auf anderen Menschen einen negativen Einfluss haben. Menschen bestrafen nachhaltig jene Personen oder Institutionen, die die schlechte Nachricht im Rahmen einer Entscheidung und Umsetzung implementieren. Sie interessieren sich jedoch weniger, wer diese Entscheidungen ursprünglich getroffen beziehungsweise delegiert hat. Bartling und Fischbacher stellten ein Experiment auf, in welchem Entscheidungsträger die Möglichkeit hatten, eine faire und eine unfaire Entscheidung entweder selber zu treffen oder diese an andere zu delegieren. Zusätzlich konnten die unfair behandelten Personen im Experiment den Entscheidungsträger bestrafen. Die Ergebnisse sind intuitiv einleuchtend und zeigen ein realistisches Bild der politischen und wirtschaftlichen Praxis: Verantwortung kann erfolgreich delegiert werden und bildet daher eine starkes Motiv, Entscheidungen, welche negativen Impact haben können, zu delegieren.
Und genau dies passierte während der vergangenen Monate in der Griechenlandkrise. Der IWF als „unabhängige“ und bewährte Institution für internationale Feuerwehrübungen wurde auch als geübter Überbringer der schlechten Nachrichten und damit als mögliche verantwortliche Institution identifiziert. Jetzt musste nur noch eine geeignete Dramaturgie gefunden werden, um den IWF in dieser Rolle zu positionieren, damit dieser seine Arbeit tun konnte.
Die griechische Regierung, bewusst oder unbewusst, war erleichtert, der eigenen Bevölkerung einen Sündenbock liefern zu können und gegenüber der EU konnte Griechenland zumindest einigermaßen sein Gesicht wahren; dies hilft eine drohende einseitige griechische Blockade für zukünftige Entscheidungen zu vermeiden, die einstimmig von allen Mitgliedsländern der EU verabschiedet werden müssen.
Ob der IWF diese Rolle auch in Zukunft für Europa ausführen wird, hängt davon ab, wie schnell im europäischen Währungsverbund eine „nichtpolitische“ Institution geschaffen werden kann, die IWF-ähnliche Rollen übernimmt und nicht vom europäischen Meinungsbildungsprozess in Brüssel abhängig ist. Die Rolle des politischen Sündenbocks spielt der IWF bereits heute bestens und überaus professionell.