Die Analyse des realen Verhaltens von Menschen in wirtschaftlichen Fragen hat erst in den vergangenen Jahrzehnten so richtig Einzug in die Wirtschaftswissenschaften gehalten. Ernst Fehr im Gespräch mit der Austria Presse Agentur.

Die Europäische Union hat den Forderungen der USA nicht „nachgegeben“, sondern einen notwendigen Spielzug gemacht. (aus: Der Standard)
Der sogenannte 15-Prozent-Deal zwischen der Europäischen Union und den USA hat nicht nur ökonomisch für Kritik gesorgt. Auch politisch wurde er als einseitiges Zugeständnis gewertet: Europa akzeptiert Zölle, die es zuvor kategorisch abgelehnt hatte – ohne eine vertraglich fixierte Gegenleistung. Das erscheint auf den ersten Blick als Verlustgeschäft. Doch diese Bewertung folgt einer Logik, die davon ausgeht, dass politische Entscheidungen idealtypisch, symmetrisch und rational verhandelbar sind. In der Realität instabiler Machtverhältnisse gilt ein anderer Maßstab: die Fähigkeit, unter Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben.
Der Deal wurde nicht aus Überzeugung getroffen, sondern unter Druck. Eine US-Regierung, die das westliche Bündnis offen infrage stellte. Eine Ukraine-Haltung, die bis zuletzt zwischen Schweigen und Rückzug schwankte. Und ein geopolitisches Umfeld, das keine Geradlinigkeit belohnte, sondern jene Akteure, die fähig waren, auf Risiko zu setzen.
Die EU hat in diesem Kontext nicht „nachgegeben“, sondern gehandelt – ohne Garantie, aber mit klarer Setzung.
Nur Stunden nach der Einigung folgte ein abrupter Kurswechsel der USA im Ukraine-Konflikt: neue Rhetorik, neue Linie, sichtbare Distanzierung von Russland. Keine Absprache. Aber Wirkung.
Was Europa durch den 15-Prozent-Deal erhalten hat, war kein klassischer Vorteil – sondern ein strategisches Zeitfenster. Ein Bündnis, das längst ausgehöhlt schien, wurde erneut aktiviert. Nicht durch Konsens, sondern durch den Impuls einer Seite, die bereit war, Verantwortung zu übernehmen – auch ohne Gegenzug. Sicherheit entsteht nicht, wenn alle gleichzeitig zustimmen. Sie entsteht, wenn jemand den ersten Schritt macht, trotz Risikos. Der Deal war genau das: ein kalkulierter Vorgriff auf eine mögliche Reaktion – nicht idealistisch, sondern realistisch gesetzt.
Unbequeme Führung
Natürlich bleibt das Ergebnis fragil. US-Präsident Donald Trump ist kein stabiler Partner, und der Deal bietet keine juristische Absicherung. Aber Europa hat gezeigt, dass es unter asymmetrischen Bedingungen noch agieren kann. Dass es in einer Welt ohne Ordnungskraft nicht auf Prinzipien beharrt, sondern Räume öffnet, in denen Ordnung wieder entstehen kann. Diese Form von Führung ist unbequem. Sie bedeutet: Handeln unter Unsicherheit. Entscheiden ohne Sicherheit. Setzen ohne Rückversicherung. Aber sie ist notwendig – und sie war in diesem Fall richtig.
Europa hat gezeigt, dass es unter asymmetrischen Bedingungen noch agieren kann. Dass es in einer Welt ohne Ordnungskraft nicht auf Prinzipien beharrt, sondern Räume öffnet, in denen Ordnung wieder entstehen kann.
Es wäre daher falsch, den 15-Prozent-Deal als Schwäche abzutun. Er war keine wirtschaftliche Glanztat – aber eine politische Maßnahme mit Wirkung. Und vor allem: Er war ein Lehrstück dafür, dass Handlungsfähigkeit nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht, sondern manchmal auf einem Alleingang, der genug Wirkung entfaltet, um eine neue Ordnung zu ermöglichen. Das ist keine angenehme Wahrheit – aber eine realistische. Und für Europa derzeit die entscheidende.
Gerhard Fehr ist Co-Gründer, Delegierter des Verwaltungsrates und Managing Partner bei FehrAdvice & Partners.