Regeln als Richtschnüre unserer Entscheidungen

Regeln können uns zu besseren Entscheidungen verhelfen, aber sie schränken auch unsere Freiheit ein. Das gilt vor allem in Krisenzeiten.

Regeln als Richtschnüre unserer Entscheidungen

Traurig, aber wahr: Dass Menschen in Zeiten der Coronakrise ihren Arbeitsplatz verlieren, ist keine große Überraschung. Wenn es sich jedoch um einen hochrangigen Beamten wie den Chief Medical Officer von Schottland handelt, ist das ungewöhnlich genug, um auf dem Titelblatt der Zeitungen zu erscheinen. Dr. Catherine Calderwood wurde von der Polizei festgenommen, als sie während der Ausgangssperre zu ihrem Zweitwohnsitz in Earlsferry fuhr, der über eine Stunde Fahrtzeit von ihrem Zuhause in Edinburgh entfernt liegt. Einen Grund, der ihren Ausflug rechtfertigt, gab es nicht.

Dr. Calderwood hat die Regeln, das Haus nicht zu verlassen, missachtet. Obwohl ihre Vorgesetzte, die schottische First Ministerin Nicola Sturgeon, ihr den Rücken deckte, hat Dr. Calderwood entschieden, ihr Amt am 5. April niederzulegen.

Regeln – die Herrscher über unser Leben

Harte Konsequenzen für einen Fehltritt, der ihr vermutlich unwesentlich erschien. Es stellt sich die Frage, welchen Schaden sie durch ihr Verhalten verursacht hat. Die Fahrt in ihrem Auto, zusammen mit ihrer engsten Familie, hatte keinen signifikanten Einfluss auf das Infektionsrisiko anderer. Und auch wenn sie kurz einen Stopp zum Einkaufen eingelegt hätte, wäre das Risiko andere Menschen anzustecken nicht höher als in Edinburgh – vermutlich sogar geringer.

Sollten wir uns an Regeln halten, wenn das Nichtbefolgen dieser keine erkennbaren Nachteile für uns nach sich zieht? Diese Frage zeigt beispielhaft den Unterschied zwischen einem deontologischen und einem utilitaristischen Standpunkt auf. In ersterem geht es um das Befolgen von Regeln, in zweiterem geht es darum das zu tun, was nach umfassender Abwägung der Vor- und Nachteile den größten Nutzen schafft. Wenn keiner durch Dr. Calderwoods Trip geschädigt wurde und sie mit ihrer Familie ein schönes Wochenende verbracht hat, ist ihr Verhalten nach utilitaristischer Ansicht sinnvoll. Aber dennoch hat es gegen die Regeln verstoßen.

Deontologische Ethik wird oftmals als primitiv bezeichnet. Ihre Verfechter beurteilen eine Handlung nur nach ihrer Regelkonformität – sie treffen Entscheidungen, ohne über ihre Sinnhaftigkeit nachzudenken. Im Gegensatz dazu, treffen Konsequentialisten Entscheidungen erst nach einer umfassenden Abwägung von Optionen und deren Konsequenzen. Ein solch bedachter, vernünftiger und denkaufwändiger Ansatz muss doch zu besseren Entscheidungen führen.

Wenn wir aber einen Blick in unser alltägliches Leben werfen, sehen wir, dass die meisten Entscheidungen auf der Grundlage von Regeln und Vorschriften getroffen werden. Wir haben schlicht und einfach nicht die nötige mentale Kapazität, um ausschließlich wohldurchdachte Entscheidungen zu treffen.

Wenn wir darüber nachdenken, einen neuen Computer zu kaufen oder einen Urlaub zu buchen, lassen wir meist die günstigsten Alternativen außen vor. Der Grund dafür ist, die Anwendung der Preis-Qualitäts-Heuristik. Wir vermuten, dass ein besonders niedriger Preis schlechte Qualität bedeutet – geringe Akkulaufzeit oder schlechte Bildqualität, eine besonders ungünstige Lage des Hotels oder ein Zimmer mit Blick auf eine Baustelle. Beim Autofahren verwenden wir das Geräusch des Motors als eine heuristische Regel, um zu entscheiden, ob wir in den nächsten Gang schalten sollen, anstatt einen Blick auf die Drehmesserzahl zu werfen und zu überlegen, ob es bei der aktuellen Geschwindigkeit überhaupt Sinn macht, den Gang zu wechseln.

Wir haben so viele Regeln, die unser Leben einfacher machen: Wir beachten verschiedene Signale und wissen, was zu tun ist – ohne kognitiven Aufwand. Einige davon sind individuell und besonders ausgefeilt, wie die geschulte Intuition eines Tischlers, der die zentralen Eigenschaften eines Holzstücks, ohne groß nachzudenken erkennt und sofort weiß, was er daraus machen kann. Andere sind weitverbreitet, wie die Preis-Qualitäts-Heuristik oder wann man beim Autofahren den Gang wechseln soll.

Auch strengere und durchsetzbare Regeln, wie beispielsweise Gesetze, manifestieren sich auf diesem Weg. Die Strafandrohung führt unter anderem dazu, dass wir uns gesetzeskonform verhalten. Aber viel wichtiger ist, dass uns Gesetze, wie auch alle anderen Regeln, von dem kognitiven Aufwand befreien, Informationen zu sammeln und anschließend eine umfassende Abwägung der Vor- und Nachteile vorzunehmen. Wie der Werbeslogan einer bekannten Sportmarke uns rät: Just do it.

Jederzeit haben wir die Möglichkeit, unsere selbst konstruierten Regeln wieder außer Kraft zu setzen oder abzuändern. Ein überzeugendes Beispiel dafür stammt aus einem Paper von Shaun Larcom, Ökonom an der University of Cambridge. Wie fast alle Pendler, folgen auch die Menschen in London einer selbstauferlegten Regel. Ohne darüber nachzudenken gehen sie täglich zur gleichen Bus- oder U-Bahn-Station und legen immer denselben Weg zur Arbeit zurück. Im Jahr 2014 waren viele von ihnen aufgrund eines zweitägigen Streiks gezwungen, ihre Route zu wechseln. Sie mussten eine Alternative finden und sich somit gedanklich mit verschiedenen Lösungsmöglichkeiten auseinandersetzen. Nach dem Streik behielten knapp 5% von ihnen ihre neue Route bei.

Wenn es um gesellschaftliche Regeln geht, müssen wir jedoch umsichtiger vorgehen, da uns ein solcher Regelbruch teuer zu stehen kommen kann. Das hält uns trotzdem nicht davon ab, ein Stopp-Schild zu überfahren oder ein Tempolimit zu überschreiten, wenn wir in Eile sind – dabei wägen wir das Risiko, erwischt zu werden, sorgfältig ab (ungeachtet, ob unsere Einschätzung am Ende richtig oder falsch war).

Regelkonformität vs. Regelverstoß

Aber nun zurück zu den Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus. Wenn wir die Straßenverkehrsordnung missachten, halten sich die Konsequenzen meist im Rahmen. Wir könnten uns selbst und möglicherweise ein paar anderen Menschen schaden – die Liste der potenziellen Konsequenzen ist abschließend. Tragen wir jedoch eine Infektionskrankheit in uns, ist das nicht der Fall. Die Basisreproduktionszahl vom Sars-CoV-2-Virus (die Anzahl von Neuinfektionen, die sich aus einer bestehenden Infektion ergibt) wird zwischen 1,4 und 3,9 geschätzt. Das bedeutet, dass eine Person der Ausgangspunkt für mehrere Tausend Infektionen sein kann.

Das ist der Grund dafür, warum Regeln – seien es gesellschaftliche Normen oder aber Gesetze – in dieser Situation erforderlich sind. Auch wenn wir unsere Vorhaben gründlich überdenken und sorgfältige Abwägungen vornehmen, sind wir nicht in der Lage, die Tragweite unserer Entscheidungen und die damit einhergehenden potenziellen Risiken richtig einzuschätzen. Größtenteils halten die Menschen die in dieser Situation notwendigen Regeln ein. Es scheint, dass die meisten von uns mittlerweile eine Routine in der Selbstisolation entwickelt haben, die nur durch Spaziergänge oder den Weg zum Supermarkt durchbrochen wird. Aber wie lange werden sich die Menschen an diese Regeln halten?

Vor ein paar Wochen stellte eine Gruppe von Verhaltensforschern die Vorgehensweise der britischen Regierung, Social-Distancing-Maßnahmen nicht zu früh einzuführen, in Frage. Begründet wird die Nichteinführung von Ausgangssperren zum jetzigen Zeitpunkt mit der Vermeidung von „Behavioral Fatigue“ – es soll verhindert werden, dass Menschen an den Maßnahmen ermüden und sich nicht mehr an die Verhaltensvorschriften halten. Je länger die Maßnahmen in Kraft sind, desto bewusster wird den Menschen, welche Opfer sie bringen und worauf sie verzichten müssen – das gilt vor allem für Kontakt mit ihren Liebsten. Auch wenn wir uns heute an die Regeln halten bzw. sie nur in absoluten Ausnahmesituationen brechen würden, kann unsere Entschlossenheit bald anfangen zu bröckeln, wenn wir es leid sind, unsere Familie oder engsten Freunde nur über FaceTime zu sehen.

Die Ergebnisse einer Umfrage in Belgien, durchgeführt von Maarten Vansteenkiste, Entwicklungspsychologe an der Universität Gent, deuten darauf hin, dass solch ein Umdenken vermutlich stattfinden wird. Die Auswertung zeigt, dass die Motivation, sich regelkonform zu verhalten, von konstanten 81% auf 76% gefallen ist. Die Versuchung, über die Social-Distancing-Regelung hinweg zu sehen und seinen Liebsten einen Besuch abzustatten, wird immer größer. Das ist nicht überraschend. Der Nutzen, die Regeln zu beachten, ist schwer erkennbar, solange keiner im näheren Umfeld infiziert wurde. Die Vorteile einer Regelmissachtung, nämlich seine Liebsten seit langer Zeit wieder in den Arm zu nehmen, werden in den Köpfen der Menschen immer deutlicher.

Dr. Calderwood entschied sich dafür, die Regeln zu brechen.

Die Ausgangssperren werden noch eine Weile aufrecht bleiben – werden wir der Verlockung, es Dr. Calderwood gleichzutun, widerstehen können?

 

Über den Autor

Koen Smets (Twitter @koenfucius) ist ein Experte für Organisation Development und Change Management, der seit über 10 Jahren die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie in der Praxis anwendet. Er ist ausserordentlicher Professor für Ethische und Evidenzbasierte Entscheidungsfindung an der Saint Louis University (UK).