In den meisten Ländern herrscht ein Mangel an Organspendern. Das führt zu langen Wartelisten, Frust und grossen Ängsten bei Menschen, deren Gesundheit und auch Leben oft von einer erfolgreichen Organtransplantation abhängt. Um dieses Problem zu lösen, wurden schon verschiedenste Lösungsansätze diskutiert. Mal sollten Organempfänger für den Erhalt von Organen bezahlen, mal sollten Organe nach dem Tod eines Bürgers in den Besitz des Staats übergehen, mal wurden Kampagnen zur Information und Aufklärung lanciert, um sie mehr Menschen zu Organspendern zu machen. Allein, genutzt hat keine der Ideen.
Das Thema Organspenden ist in den Nationalstaaten jeweils gesetzlich geregelt. Prinzipiell kommen dabei folgende Modelle zur Anwendung:
- Widerspruchsregelung
- Erweiterte Widerspruchsregelung
- Zustimmungslösung
- Erweiterte Zustimmungslösung
Die Widerspruchsregelung (auch Widerspruchslösung) ist dabei die am weitesten gefasste Regelung. Sie bestimmt, dass ein Verstorbener jederzeit als Spender in Frage kommt, es sei denn, er hat zu Lebzeiten ausdrücklich einer Spende widersprochen.
Die erweiterte Widerspruchsregelung umfasst zusätzlich noch das Recht, die Angehörigen nach dem Tod des potenziellen Spenders als Boten des Willens des Verstorbenen zu Lebzeiten zu akzeptieren.
Die Zustimmungslösung besagt, dass der Spender zu Lebzeiten erklärt haben muss, dass er Organspender werden will. Sie ist sehr eng gefasst, da eine ausdrückliche Willenserklärung vorliegen muss.
Bei der erweiterten Zustimmungslösung können nach dem Tod des Organspenders auch noch die Angehörigen zustimmen. Diese Regelung erweitert die Zustimmungslösung.
In einem Aufsatz haben sich Eric J. Johnson und Daniel G. Goldstein mit dieser Problematik auseinandergesetzt und zusätzlich die bereits existierenden empirischen Befunde mit eigenen experimentellen Resultaten unterlegt.
Opt-out vs. Opt-in
Alle Länder mit einem sehr hohen Niveau an Organspendern (von Österreich bis Schweden) wenden die Widerspruchsregelung an (Opt-out: auf folgender Grafik blau dargestellt), alle Länder mit einem geringen Organspende-Niveau die Zustimmungsregelung (Opt-in: grün).
Die Gründe für diesen grossen Unterschied sind nicht, dass sich Menschen diese Entscheidung leicht machen oder unverantwortlich mit dem Thema Organspenden umgehen. Interessanterweise ist genau das Gegenteil der Fall. Wenn Menschen zu diesem Thema gefragt werden, überlegen sie sehr genau, um die richtige Entscheidung zu treffen. Sich bewusst für etwas entscheiden zu müssen ist schwieriger als keine Entscheidung treffen – auch wenn die Entscheidung möglicherweise nicht vollständig Ihren Bedürfnissen und Präferenzen entspricht. Menschliche Bedürfnisse sind nicht stabil, weder zeitlich noch im Kontext.
Vorgaben von Standards (“default options”) sind daher nicht nur eine wichtige Entscheidungshilfe, sondern sparen Zeit und Kopfzerbrechen, die richtige Entscheidung treffen zu wollen. Dan Ariely illustriert dies in diesem Videoclip sehr spannend und unterhaltsam.
In der Schweiz war bis 2005 die Spenderrate im Vergleich zum anderen europäischen Ländern relativ niedrig (bei ca.1.2% im Jahr 2004). Auch das 2004 in der Schweiz erlassene Transplantationsgesetz, das am 1. Juli 2007 in Kraft trat, hat diese Rate nicht stark ansteigen lassen, da das Gesetz die erweiterte Zustimmungslösung vorsieht (eine gute Zusammenfassung ist hier erhältlich: Bundesamt für Gesundheit – Transplantationsmedizin)
Die Dramatik der Situation zeigt sich hauptsächlich für Patienten auf der Warteliste und deren Angehörige und Freunde. 2011 wurden 504 Patienten transplantiert, 61 Menschen verstarben 2011 auf der Warteliste, weil ihnen nicht rechtzeitig ein Organ zugeteilt werden konnte. Derzeit stehen 1074 Patienten auf der Nationalen Warteliste – alles andere als eine ideale Situation wie die Organisation Swisstransplant anmerkt, die auch die hier genannten Zahlen erhoben hat.
Keine optimale Choice Architecture – warum?
So stellt sich die Frage, welche Gründe dazu geführt haben, dass der Gesetzgeber sich schlussendlich gegen eine optimale “Choice Architecture” im Spendengesetz entschieden hat. Sie lässt sich kaum beantworten, denn die Diskussion über diese Thematik wird noch dadurch erschwert, dass sich sehr wenige Gegner der Opt-out-Architektur explizit in der Öffentlichkeit zu erkennen geben. Ja, nicht einmal in anonymen Befragungen. Es gibt eigentlich keine öffentliche bekennenden Gegner des Organspendens.
So bleibt die Erkenntnis, dass es sich um eine ethische Fragestellung handelt, die – wie alle Fragen dieser Art – mit sehr viel Fingerspitzengefühl und Sensibilität angegangen werden muss. Ob jemand seine Organe spenden will oder nicht, ist eine sehr persönlich Sache, die für manche sehr schwer zu beantworten ist.
Wann tritt wirklich der Tod eines Menschen ein? Wie lange muss ein verstorbener oder sterbender Mensch nach seinem Hirntod noch künstlich am Leben erhalten werden, damit seine Organe entnommen werden können? Wie menschenwürdig ist solch ein Sterben? Wer profitiert von der Organspende, sprich: ist die Zuteilung der Spendenorgane fair, oder gibt es den Verdacht, dass spezielle Gruppen hier im Vorteil sind? Welche Art des Entscheidungsdrucks kann den nächsten Angehörigen in einer Extremsituation wie dem Tod eines nahen geliebten Menschen, zugemutet werden? Welche Verantwortung trägt der Organspendenempfänger für seine eigene Krankheit?
Diese breite Palette an wichtigen ethischen Fragen ist komplex. Jeder muss sie für sich selbst beantworten. Ob sich die meisten Menschen diesem sehr schmerzvollen Bewusstseinsprozess des Sterbens beschäftigen wollen, darf bezweifelt werden. Es ist für viele Menschen, die mit voller Kraft im täglichen Leben stehen, schwierig zu akzeptieren, dass sie einmal sterben müssen. Wie schwierig muss es dann erst sein, sich über das Spenden seiner eigenen Organe Gedanken zu machen.
Warum Choice Architecture allen hilft
Und genau hier kann die Coice Architecture eines Organspendegesetzes ansetzen. Heute entscheiden sich jene, die sich keine expliziten Gedanken über die ethischen Fragen machen, und jene, für die das Thema eigentlich keine Relevanz hat, gegen das aktive Spenden von Organen, weil sie sich nicht als Spender eintragen lassen. Jene Minderheit, die sich mit dieser Thematik beschäftig, entscheidet sich bewusst für oder gegen die Lösung – und das sind wie bei uns in der Schweiz leider nur sehr wenige Menschen. Und von denen bleibt ein noch kleinerer Teil von Organspendern übrig.
Bei einer Opt-out Lösung geschieht genau das Gegenteil: Wer sich bewusst dagegen entscheidet, kann sich aus der Spenderliste austragen lassen. Mit dem Ergebnis, dass ein Grossteil der Schweizer von einem Tag auf den anderen zu potentiellen Organspendern werde. Ohne dass dies ihre Rechte einschränken würde – und ohne Verlust von Lebensqualität und Wohlstand.
Es ist durchaus möglich, dass es so für manche Menschen schwieriger ist, “Nein” zu sagen, obwohl sie eigentlich ihre Organe nicht spenden wollen. Dies sind die gesellschaftlichen Kosten einer solchen Regelung. Kosten, die unsere Gesellschaft sicherlich tragen könnte, denn der Dank der überlebenden Organempfänger ist ihnen so sicher.