Vorsorge, Gesundheit, Versicherung: Behavioral Economics-Applikationen für überalternde Gesellschaften

Das Durchschnittsalter in Industriestaaten steigt ständig an. Das birgt viele gesellschafts- und gesundheitspolitsche Probleme. Bei manchen können verhaltensökonomische Applikationen helfen.

Vorsorge, Gesundheit, Versicherung: Behavioral Economics-Applikationen für überalternde Gesellschaften

Fremdenverkehrswerbung für Urlaub in Chile, 2011; Lizenz: Gobierno de Chile

Die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen Forschung helfen zu verstehen, warum individuelle Entscheidungen meist vom rationalen Modell des Homo Oeconomicus abweichen. Dieses Wissen hilft auch, Ansätze zu entwickeln, die bei vielen der drängenden Fragen immer älter werdender Gesellschaften Lösungen bieten.

Margaret McConnell von der Harvard School of Public Health sammelte für ein Paper die interessantesten verhaltensökonomischen Ansätze, die in vielen Fällen auch schon praktisch – und mit Erfolg – getestet wurden. Ihr Fokus liegt auf finanziellen Vorsorgemassnahmen sowie Strategien in der Gesundheitspolitik. Hier eine Auswahl:

Altersvorsorge

Menschen neigen dazu, Unangenehmes aufzuschieben – je schwächer ihre Selbstkontrolle, desto grösser die Trägheit (O’Donoghue and Rabin, 1999). Die Zusammenarbeit von Beshears et al. (2008) mit grossen US-Firmen zeigte erfolgreich, dass beim Thema Altersvorsorge ein Opt-Out System sinnvoll ist. Arbeitnehmer werden bei Eintritt automatisch in die Vorsorge eingeschrieben, müssen sich also nicht, wie bisher üblich, selbst darum bemühen. Mittlerweile wurde diese Massnahme vom US-Bundesministerium für Finanzen übernommen – schliesslich haben sich die Anmeldungen zur Altersvorsorge seit Start dieses neuen Default verdoppelt.

Beshears et al. (2012) und Iyengar et al. (2004) bewiesen wiederum, dass ein Bündel an Anlageoptionen schnell zu Überforderung führen kann. Entscheidungserleichterungen, etwa die Bereitstellung simpler „Nein“- oder „Ja“-Kästchen, konnte die Anmeldungsrate um 20 Prozent steigern (Beshears et al.) – und damit die Vorsorgesituation im Alter verbessern.

Gesundheitsvorsorge

Auch hier gibt es viele Ansätze. Eine Vereinfachung und Erklärung von Optionen gehört zu den essenziellen Komponenten einer smarten Gesundheitspolitik, so Sunstein, 2013. Wenn es Richtung zweite Lebenshälfte geht, werden Entscheidungen im Zusammenhang mit der eigenen Gesundheit unter immer grösserer Unsicherheit getroffen. Das eigene Wissen erscheint im Vergleich zu den Experten kleiner (Arrow, 1963). Die Tendenz, über psychologische Biases zu stolpern, ist vor allem gegeben, wenn wir eine Wahl unter grosser Unsicherheit treffen müssen (List, 2003). Hier kann zum Beispiel die richtige Etikettierung helfen, von der sich ältere Personen gerne leiten lassen (Lloyd, 2013). McConnell:

If labels are effective in shaping choices across a variety of realms, they may serve as an inexpensive and effective way of encouraging health choices or avoiding costly and unnecessary care.

Behavioral Change

Wegen der vielen Krankheitsbilder einer überalteten Bevölkerung steigen die Gesundheitskosten überproportional an (Lim et al., 2013). Falsche Ernährung und zu wenig Bewegung resultieren häufig in Diabetes, Herz-Kreislauf-Leiden und Krebs. Es zeigt sich, dass selbst Patienten mit chronischen Krankheiten medizinische Anweisungen nicht immer befolgen (Osterberg and Blaschke, 2005).

Dabei sind manche Lösungen ganz einfach: Die bessere Erreichbarkeit gesunder Lebensmittel kann nachhaltigere Effekte auf die persönliche Gesundheit haben als das blosse Bereitstellen von Kalorientabellen (Wisdom et al. (2010).

Versicherung

Baicker et al. (2012a) haben ein theoretisches Modell entwickelt, das in Versicherungsfragen nicht nur das subjektive Risiko, sondern auch ein „behavioral hazard“ einbringt. Damit ist etwa die Tendenz gemeint, dass Patienten hochwertige medizinische Verfahren zu wenig nutzen. Die Autoren argumentieren, dass effiziente Versicherungsunternehmen nur minimale Eigenleistungen für solche Behandlungen verlangen sollen, damit dieser behavioral hazard abgeschwächt werden kann.

Entscheidungsfindung und Alter

Es ist empirisch bewiesen, dass sich das finanzielle Gebaren mit dem Alter ändert. Agrawal et al. (2009) fanden heraus, dass Individuen im mittleren Alter weniger finanzielle Fehler begehen als jüngere oder ältere Menschen. Es braucht dafür aber noch weitere experimentelle Forschung, um Applikationen entwickeln zu können, die Konsumenten und Patienten vor ihrem systematisch unvorteilhaften Verhalten zu schützen.

Abschliessend hält Margaret McConnell fest, dass die Ergebnisse vieler Studien nicht überall anwendbar sind, da sie meist in Industrieländern entstanden sind:

In many developing countries, it may be difficult to alter choice environments that are not systematized and well regulated. Many effective interventions that have been rigorously tested in the US are integrated into formal workplaces. These systems are unlikely to fit most developing country contexts because of the prevalence of informal work. More research is needed to understand how to create automaticity and interventions that change the structure of choices in countries with a large percentage of informal work and poorly regulated health systems.

Quelle: Margaret McConnell, Behavioral economics and aging, The Journal of the Economics of Ageing, October 2013