Die Verlustaversion ist ein wesentlicher Bestandteil der von Daniel Kahneman und Amos Tversky 1979 formulierten Prospect Theory, einer Theorie zur Bewertung von Investitionen („risky prospects“). Menschen bewerten eine Investition oftmals nicht nach ihrem Endergebnis, sondern in Bezug auf einen Referenzpunkt, typischerweise dem Preis zum Zeitpunkt des Kaufs des Aktivums. Verlustaversion bezeichnet die relative Gewichtung dieser Gewinne und Verluste: Verluste wiegen im Urteil von Entscheidungsträgern oft viel schwerer (etwa doppelt so schwer) als gleich grosse Gewinne.
Die weite Verbreitung von Verlustaversion ist eine der wichtigsten Einsichten der Verhaltensökonomie und hat Auswirkungen in vielen Bereichen des Lebens. Sie beeinflusst nämlich nicht nur Entscheidungen, bei denen das Ergebnis zufallsbestimmt („risky“) ist, sondern auch solche, die sichere Verluste mit sich bringen.
Allerdings sind nicht alle Leute gleichermassen verlustavers. Beispielsweise zeigt eine Studie von Gächter, Johnson und Herrmann, dass etwa 90 Prozent der Probanden eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Verlustaversion bei sicheren Verlusten aufweist, bei unsicheren Verlusten waren es etwas weniger. Ausserdem ist Verlustaversion bei Leuten mit höherer Bildung seltener; und mit dem Alter nimmt sie zu.
Was Verlustaversion für Investoren bedeutet
Nicht nur für Profis, sondern auch für ganz durchschnittliche Anleger, die bereit sind, langfristig und diversifiziert zu investieren, lohnt es sich, ihre Verlustaversion zu kennen. Sie führt etwa zur Tendenz in sogenannte sichere Anlagen zu investieren. So lässt man sich aber langfristige Erträge entgehen.
Die Verhaltensökonomen Shlomo Benartzi und Richard S. Thaler sind sogar der Ansicht, dass darin der Grund liegt, warum Aktien langfristig besser rentieren als Bonds – die Gründe für dieses so genannte „equity premium puzzle“ sind aber wissenschaftlich umstritten. Für langfristig orientierte Investoren lohnt sich aufgrund der historischen Erfahrung im Schnitt die Investition in Aktien – die allerdings im Einzelfall eben auch Verluste mit sich bringen kann.
Aus diesen Erkenntnissen lassen sich zwei Ratschläge ableiten:
1. Wenn Sie Aktien kaufen, tun Sie dies mit einer langfristigen Strategie und achten Sie dabei nicht auf tägliche Schwankungen.
Aktienkurse weisen hohe Schwankungen auf. Wer die Kurse jeden Tag verfolgt, wird an vielen Tagen Verluste beobachten. Wer seltener beobachtet, nimmt weniger Verluste wahr (sofern die Grundtendenz positiv ist, was bei einem breit gefassten Index über längere Horizonte plausibel ist).
Um negative Gefühle zu vermeiden, empfiehlt es sich daher, einfach nicht so oft hinzuschauen. Es hat sich in mehreren Laborexperimenten gezeigt, dass langfristige Investoren (also solche, die sich nicht von täglichen Schwankungen leiten lassen) höhere Erträge erzielen, weil sie sich von nicht-realisierten Verlusten weniger schrecken lassen.
Dieser Rat ist nur sinnvoll für Menschen, die Geld investieren können, das sie in den nächsten zehn oder mehr Jahren nicht dringend benötigen. Wenn Sie über keine solchen Mittel verfügen, von Verlusten schmerzhaft berührt werden und Ihre Augen nicht von den täglichen Börsenkursen lassen können, sollten Sie auf Aktien lieber verzichten. Eröffnen Sie ein Sparkonto und schlafen Sie ruhig.
Sollten Sie trotzdem noch an Aktien interessiert sein, hier mein zweiter Rat:
2. Erstellen Sie einen langfristigen Investitionsplan (idealerweise in breit gefasste Indizes), erteilen Sie einen Dauerauftrag, um verteilt in Aktien einzusteigen – und dann bleiben Sie dabei!
Das hat gleich zwei Vorteile: Erstens erzielen Sie mit dieser Technik zwar im Schnitt geringere Erträge, aber auch Verluste sind weniger wahrscheinlich. Zweitens wird der Referenzpunkt kognitiv kaschiert, von dem aus der Verlustaverse seine Gewinne und Verluste beurteilt.
Wer ein Portfolio an einem Stichtag kauft und dann hält, ist mit gut sichtbaren Verlusten konfrontiert. Wer hingegen den gleichen Betrag verteilt über ein Jahr (zum Beispiel monatlich) in breite Investmentklassen investiert, sieht weniger klar, ob er gewonnen oder verloren hat. So schmerzt ein allfälliger Verlust viel weniger.
Ist Verlustaversion also irrational?
Ja, wenn man sie im Hinblick auf die zu erwarteten Erträge betrachtet. Wer an Verlustaversion leidet, schreckt vor langfristig profitablen Investitionen zurück. Es lohnt sich daher, bei Investitionsentscheidungen langfristig zu denken, mit dem Kopf statt mit dem Bauch zu entscheiden. Und es lohnt sich auch, über die Commitment-Strategien nachzudenken, die einem helfen, die irrationale Angst vor Verlusten zu überwinden.
Wenn man Verlustaversion hingegen als ernstzunehmende Präferenz betrachtet, lautet die Antwort Nein. Menschen, die der Gedanke an mögliche Verluste stark schmerzt, maximieren ihren Nutzen, wenn sie möglichen Verlusten unbedingt aus dem Weg gehen.
Der Ursprung dieser Präferenz liegt vielleicht in unserer evolutionären Vergangenheit. In der Savanne ging es für die Jäger und Sammler in erster Linie darum, jeden Tag genügend Nahrung zum Überleben zu finden. Es war nicht wichtig, im langfristigen Durchschnitt höhere Gewinne zu erzielen, weil Gewinne schlecht mit Verlusten verrechnet werden konnten. Wenn der prähistorische Jäger an einem Tag drei Tiere statt nur eines erlegte, konnte er doch nur eines verzehren. Das überschüssige Fleisch verdarb.
Darüber hinaus hätte ein solcher Gewinn mit dem Risiko verbunden sein können, sich bei der Jagd zu verletzen oder gar umzukommen. Mit anderen Worten: Für den prähistorischen Jäger erhöhte seine Verlustaversion vielleicht sogar die Überlebenschancen.
Der moderne Investor ist trotzdem gut beraten, sich von diesen Verhaltensweisen aus prähistorischen Zeiten zu lösen. Die moderne verhaltensökonomische Forschung kann uns dabei helfen; sie zeigt aber auch, wie schwer uns das oft fällt.